Die virtuelle Welt ist oftmals größer als die reale Welt. Es braucht daher Lösungen, um sich in der VR-Welt bewegen zu können ohne an die Grenzen der realen Welt zu stoßen. Eine Lösung ist das so genannte »Redirected Walking«. Durch visuelle Täuschungen erlangen Nutzer in einem begrenzten realen Raum den Eindruck, sich frei in einer großen VR-Welt zu bewegen.
Mit VR-Brillen und guter Software können Nutzer in die grenzenlose virtuelle Welt eintauchen. Das Erlebnis wird intensiver, wenn die Nutzer interagieren und sich möglichst frei in der programmierten Welt bewegen können. Doch die Maße der virtuellen Welt spiegeln sich nicht 1:1 in der realen Welt wider. Im Gegenteil, in der Regel befinden sich die Nutzer während der Anwendung in einem geschlossenen Raum, zum Beispiel ihrem Wohnzimmer oder einem Büro, das den Bewegungen Grenzen aufgibt. Doch die Technik bietet für dieses Dilemma Lösungen.
Mehr Raum dank Redirected Walking
Mit geschlossenen Augen können wir kaum eine längere Strecke geradeaus gehen. Unsere Sinne täuschen uns: Auch wenn wir überzeugt sind, wir seien schnurstracks von A nach B gegangen, haben wir in der Regel eine Kurve geschlagen. Diese Ungenauigkeit unserer Sinne nutzen VR-Entwickler beim »Redirected Walking«. Redirected heißt „umgeleitet“ – und genau das passiert bei dieser Technik. Redirected Walking ist eine Fortbewegungsmethode in der VR-Welt, bei der die Nutzer visuell manipuliert werden, ohne dass sie es merken. Durch die Manipulation denkt der Nutzer zum Beispiel, dass er eine Strecke geradeaus zurücklegt, ohne zu merken, dass er sich in der realen Welt im Kreis bewegt. So können die Nutzer eine virtuelle Welt erkunden, die erheblich größer ist, als der reale Raum um sie herum.
Das funktioniert, weil wir VR-Entwickler die leichten Unstimmigkeiten in der menschlichen Wahrnehmung gezielt nutzen: Nehmen wir an, wir bauen in der virtuellen Realität einen geraden Gang von fünf Metern Länge. Ein VR-Brillen-Benutzer müsste auch in der realen Welt fünf Meter gehen, um zum Ende des virtuellen Ganges zu gelangen. Mit der »Redirected Walking«-Methode lenken wir die Sicht des Benutzers aber immer ein ganz kleines bisschen zur Seite. Instinktiv dreht er sich der Kamerabewegung hinterher, um gefühlt geradeaus zu gehen. Die Sichtdrehung darf nicht zu stark sein, sonst würde der Benutzer das bemerken. Aber dezent eingesetzt, bemerkt der VR-Nutzer die Manipulation nicht. Die zu gehenden fünf Meter beschreiben jetzt eine leichte Kurve, wodurch der Benutzer ungefähr viereinhalb Meter nach vorne und zwischen ein bis zwei Metern seitwärts geht. Der sogenannte Spielraum, d.h. der reale Raum, in dem der VR-Nutzer sich bewegt, kann also kleiner ausfallen als ohne »Redirected Walking«.
So funktioniert Redirected Walking
Es ist eine Manipulation, die der Nutzer nicht merkt: Einige moderne VR-Headsets haben Sensoren im Inneren verbaut, die die Augenbewegungen der Nutzer registrieren. Der Liedschlag nimmt uns Menschen für den Bruchteil einer Sekunde die Sicht. Wir nehmen diesen winzigen Aussetzer nicht bewusst wahr. Er gibt der Technik aber genug Zeit, das Bild in der VR-Brille leicht zu drehen. Bewegt sich der VR-Brillen-Nutzer weiter durch den Raum, wird er mit jedem Liedschlag ein paar Grad von der Spielbereich-Außenkante weg und zurück Richtung Spielbereich-Mitte geleitet.
Auch Kopfbewegungen können manipuliert werden: Dabei entspricht die Kamerabewegung nicht exakt der Kopfbewegung, sondern ist leicht verstärkt oder abgeschwächt. Dreht sich der Benutzer um 45° nach rechts, kann die VR-Simulation sich aber um z.B. 48° drehen, wenn das eher in den Spielbereich hinein und von der Außengrenze wegführt. Auch die Bewegungsgeschwindigkeit kann leicht variiert werden: Der Nutzer geht dann in Wirklichkeit langsamer oder schneller, als er annimmt.
Diese Manipulationen ermöglichen, dass der Nutzer eine VR-Welt entdecken kann, die die Maße des eigenen Raums sprengt. Japanische Forscher haben 2016 herausgefunden, dass durch diese Manipulationen rund 35 reale Quadratmeter ausreichen, um VR-Nutzern das Gefühl zu geben, sich in einer grenzenlosen virtuellen Welt zu befinden.
Impossible Spaces in der VR
Eine weitere Möglichkeit einen größeren virtuellen Raum auf einem begrenzten realen Raum darzustellen, sind die sogenannten »Impossible Spaces«. Das ist ungefähr so, als würde man mehrere unterschiedliche Räume gleichzeitig an dieselbe Stelle bauen – in der realen Welt nicht möglich, also impossible.
Klingt nach Raum-Zeit-Krümmungs-Science-Fiction-Fantasie – ist es aber nicht. In der VR ist es möglich. Beispiel: Eine virtuelle Welt zeigt ein Haus mit langem Korridor, von dem drei Türen abgehen. Hinter jeder Tür befindet sich ein Raum, den der VR-Nutzer besuchen kann. Wenn diese VR-Experience im Wohnzimmer stattfinden soll, müsste das Wohnzimmer sehr groß sein, damit der VR-Nutzer nicht gegen Wände läuft. Damit auch im kleineren realen Raum das virtuelle Haus mit langem Korridor und den drei Räumen erlebt werden kann, krümmt die VR-Simulation das virtuelle Haus. Das passiert so geschickt, dass der Nutzer im vermeintlich geraden Korridor in Wirklichkeit eine Kurve läuft. Die Begehungsflächen der nebeneinander erscheinenden Räume überschneiden sich also und liegen teilweise ineinander.
Redirected Walking-Forschungen in Hamburg
Die Universität Hamburg bietet im Fachbereich Informatik den interdisziplinären Studiengang »Human-Computer Interaction« an. Mit dem dortigen Doktoranden Eike Langbehn stehen wir von VRtual X in engem Austausch. Eike Langbehn hat aktuell in einem Prototyp gezeigt, dass man auf 4×4 m Tracking Space eine virtuelle Welt von mindestens 45m² erkunden kann.
Video von der Universität Hamburg:
Quellen:
- Experteninterview mit Eike Langbehn
- https://basilic.informatik.uni-hamburg.de/Publications/2010/SBJFL10/tvcg09.pdf
- https://basilic.informatik.uni-hamburg.de/Publications/2017/LLBS17/template.pdf
- https://basilic.informatik.uni-hamburg.de/Publications/2018/RGHDLR18/ISMAR_2018_usabilitygains.pdf
- https://basilic.informatik.uni-hamburg.de/Publications/2018/LSLWB18/eye_blinks.pdf